Lernstörungen betreffen nicht nur Kinder und Jugendliche. Eine Lese-, Rechtschreib- oder Rechenstörung und ihre Folgen können sich bis ins Erwachsenenalter ziehen. Menschen, die von einer Lernstörung betroffen sind, haben häufig einige Kompensationsstrategien entwickelt, um in ihrem Alltag besser mit den Leistungsproblemen umgehen zu können. Dennoch kann eine Lernstörung die betroffene Person im Beruf, im Studium, bei Weiterbildungen oder im Privatleben beeinträchtigen. Viele wissen jedoch nicht, dass es auch unterstützende Maßnahmen für Erwachsene gibt.
Lebenslanges Leistungsdefizit durch Lernstörungen
Wurden keine wirksamen Fördermaßnahmen zur Überwindung der Lernstörung im Kindesalter durchgeführt, wachsen sich die Probleme leider selten von allein aus. Leider verlaufen die Lernschwierigkeiten häufig chronisch. Betroffene, die keine Förderung erhalten, bleiben auf ihrer gesamten schulischen Laufbahn unter ihren Möglichkeiten und ihrem Potenzial, sie erzielen geringere Schulabschlüsse und studieren seltener. Das kann mit erklären, dass Erwachsene mit Lernstörungen häufiger arbeitslos sind. Lernstörungen beeinflussen also weit über die Schulzeit hinaus die Laufbahn der Betroffenen.
Eine Lernstörung kommt selten allein: Weitere psychische Probleme sind möglich
Oft treten zusammen mit einer Lernstörung auch weitere psychische Belastungen und Erkrankungen auf, durch die weitere Lebensbereiche der Betroffenen negativ beeinflusst werden können. Zu den häufig auftretenden Erkrankungen, die eine Lernstörung in der Kindheit begleiten, zählen die Sprachentwicklungsstörung, ADHS, Auffälligkeiten im Sozialverhalten, Ängste und Depression. Auch Erwachsene mit Lernstörungen sind häufiger psychisch belastet. Zur Besserung dieser begleitenden psychischen Schwierigkeiten kann eine Psychotherapie oder eine psychiatrische Behandlung hilfreich sein. Ein erster Ansprechpartner kann der Hausarzt sein oder der direkte Gang zur Sprechstunde in einer Praxis für Psychotherapie.
Häufige Anzeichen einer Lernstörung im Erwachsenenalter
Die Anzeichen der verschiedenen Lernstörungen im Kindesalter haben wir in diesem Artikel schon genauer unter die Lupe genommen. Bei Erwachsenen zeigen sich Lernstörungen häufig so:
Lese- und Rechtschreibstörung (LRS):
- Lesestörung: Betroffene lesen insbesondere langsam und manchmal auch ungenau. Sie verlesen sich, indem sie noch richtig gelesene Wortanfänge falsch zu Ende bringen, weil das Ende erraten wird. Oder es werden Wörter erlesen, die ähnlich aussehen.
- Rechtschreibstörung: Betroffene Personen schreiben meist so wie man spricht, sodass das Geschriebene meist lesbar ist, jedoch viele Rechtschreibfehler (z. B. „Sylvester“ statt „Silvester“) und Grammatikfehler (z. B. „den“ statt „dem“) enthält. Einige Betroffene berichten auch, dass sie grundsätzlich ungern schreiben und sie sich schwer damit tun, längere Texte zu formulieren oder Formulare auszufüllen.
- Um einen Sachverhalt zu verstehen, bevorzugen Erwachsene mit LRS die gesprochene Sprache und auch Bilder, Tabellen oder Diagramme, anstatt Texte zu lesen.
- Auch in der Schulzeit hatten Betroffene Lese- und Rechtschreibprobleme. Häufig gab es schlechte Noten im Fach Deutsch und auch in anderen Fächern wie den Sprachen.
Rechenstörung:
- Im Erwachsenenalter können Personen mit Rechenstörung basale Rechenoperationen meist richtig lösen, sie brauchen aber oft deutlich mehr Zeit zum Lösen der Aufgaben als Personen ohne Rechenprobleme. Bei schwierigeren Rechenoperationen geraten Betroffene schneller an ihre Grenzen und greifen zum Taschenrechner.
- Das Verständnis für Mengen und Zahlen im höheren Zahlenbereich als auch für komplexere Rechenoperationen ist geringer als bei nichtbetroffenen Personen. So berichten viele Betroffene, Probleme mit dem Einschätzen von Mengen und Größen zu haben (z.B. Einwohner in einer Stadt oder einem Land), mit Rechnungen in großen Zahlenräumen, mit dem Einmaleins und mit Textaufgaben.
- Um einen Sachverhalt zu verstehen, bevorzugen Erwachsene mit Rechenstörung Texte oder gesprochene Sprache, anstatt Tabellen oder Diagramme zu entschlüsseln.
- Auch in der Schulzeit hatten Betroffene Rechenschwierigkeiten und oft schlechte Noten, oft nur im Fach Mathematik.
Wie man Lernstörungen bei Erwachsenen feststellt
Für die Diagnostik einer Lernstörung im Erwachsenenalter stehen deutlich weniger Testverfahren zur Verfügung als für die Diagnostik bei Kindern. Daher machen sich Psychiater*innen oder Psychotherapeut*innen ein Bild von der Problematik, indem sie nach den aktuellen Leistungsproblemen und der Entwicklung in der Kindheit fragen. Dabei wird nach der frühkindlichen Entwicklung gefragt, nach schulischen Leistungen (z. B. Schulzeugnisse), frühere Diagnosen, die Vorgeschichte der Fördermaßnahmen und die schulische und berufliche Laufbahn. Es werden auch weitere Erkrankungen ausgeschlossen, die Leistungsprobleme verursachen können (z. B. eine unbehandelte Seh- oder Hörbeeinträchtigung). Die Kosten für die Diagnostik im Erwachsenenalter werden oft nicht von den Krankenkassen übernommen und man sollte vorab klären, welche Kosten entstehen.
Was hilft bei Lernstörungen im Erwachsenenalter?
Im Kindesalter können zahlreiche evaluierte Förderprogramme eingesetzt werden und es kann auch eine Lerntherapie bei speziell ausgebildeten Lerntherapeut*innen gemacht werden. Eine Lerntherapie können zwar grundsätzlich auch Erwachsene in Anspruch nehmen, doch müssen sie die Kosten selber tragen und entsprechend ausgebildete Lerntherapeut*innen sind manchmal nicht wohnortnah zu finden. Deshalb müssen oft andere Wege der Unterstützung gefunden werden müssen. Hier ein paar Tipps:
- Training? – Training! Wie wir aus der Forschung mit Kindern wissen, kann Training wirksam sein, wenn man gezielt die problematischen Fertigkeiten trainiert. Wenig hilfreich ist hingegen nach aktuellem Forschungsstand, allgemeine Lernfertigkeiten zu trainieren, wie die Aufmerksamkeit oder das Gedächtnis.
- Schwierigkeiten kompensieren: Hilfsmittel & Co. Da unwahrscheinlich ist, dass sich alle Schwierigkeiten wegtrainieren lassen, muss eine zweite Strategie her, nämlich die der Kompensation: Durch Hilfsmittel und Alternativen sollen die bestehenden Schwierigkeiten ausgeglichen werden. Klingt gut, aber was kann das sein? Hier ist etwas Kreativität gefragt und es müssen individuelle Lösungen gefunden werden. Dennoch ein paar Beispiele, um vielleicht auf eigene Ideen zu kommen:
- Lese- Rechtschreibprobleme: Am Arbeitsplatz und auch privat, z. B. bei der Nutzung von Messengern, kann neben der Rechtschreibkorrektur auch eine Diktierfunktion genutzt werden. Diese gibt es auch für Textverarbeitungsprogramme. Auch Programme zum Textvorlesen sind erhältlich. Außerdem kann – wann immer möglich – der schriftliche Austausch durch mündliche Absprachen ersetzt werden. Also mal wieder weg von Mail & Co. und ran ans Telefon oder auf ein Gespräch ins benachbarte Büro.
- Rechenprobleme: Für alltägliche Rechenherausforderungen hilft natürlich der gute alte Taschenrechner – mittlerweile meist jederzeit im Handy griffbereit. Für größere Themen – wie die eigenen Finanzen – braucht es mehr als das. Hier kann es ratsam sein, Strategien für den Umgang mit Geld zu erlernen und sich bei wichtigen Themen beraten zu lassen. Mittlerweile gibt es viele Bücher und Fortbildungsangebote dazu, die kein tiefes mathematisches Verständnis voraussetzen.
- Eine Nische finden. Oder den richtigen Deckel zum Topf Insbesondere mit der passenden Berufswahl kann es gelingen, eine Umgebung zu schaffen, in der man die eigenen Stärken einbringen kann und möglichst wenig die eigenen Schwächen kompensieren muss. Das klingt leichter als gedacht und braucht nicht selten den ein oder anderen Planwechsel. Insbesondere aber auch weil Erwachsene mit Lernstörungen recht häufig im Alltag erfahren, dass sie etwas nicht gut können, ist es umso wichtiger, dass sie im Beruf umso mehr erleben können, dass sie ihre Fähigkeiten leidenschaftlich und erfolgreich einbringen können.
- Outing im Umfeld? Die offene Kommunikation über die eigene Lernstörung Anderen von der eigenen Lernstörung zu erzählen und darüber aufzuklären, kann sinnvoll sein. Im Beruf als auch im Privatleben können die Mitmenschen mit Verständnis auf die Schwierigkeiten reagieren, wenn sie von der Lernstörung wissen. Davon zu erzählen, kann Überwindung kosten, weil die Leistungsdefizite oft bereits durch die negativen Erfahrungen in der Kindheit schambehaftet sind. Deshalb geben wir hierzu im nächsten Abschnitt gezielt noch ein paar Tipps.
- Therapie und Beratung Wenn bereits im Alltag und Beruf Probleme durch die Lernstörung bestehen, oder wenn unklar ist, wie es beruflich weitergehen kann, macht eine Beratung (z. B. beim „Bundesverband Legasthenie und Dyskalkulie“) Sinn. Zudem gibt es auch Lerntherapeut*innen, die mit Erwachsenen arbeiten. Allerdings müssen die Kosten für die Lerntherapie selbst getragen werden. Es kann auch eine Psychotherapie angebracht sein, wenn Leistungsängste oder andere psychische Probleme bestehen. Hier übernimmt die Krankenkasse die Kosten.
Welche Punkte man beachten sollte, bevor man anderen von einer Lernstörung erzählt:
Wer muss von der Lernstörung wissen?
Normalerweise sind es die Personen, auf die sich die Lernstörung in irgendeiner Art auswirkt, die das also mitbekommen. Im Privatleben sind es die nahestehenden Personen. Im Arbeitsalltag sind das die Vorgesetzten und gegebenenfalls auch die Kolleg*innen, welche informiert werden sollten. Im Studium oder in der Berufsschule kann dadurch auch die Inanspruchnahme von Sonderkonditionen ermöglicht werden, wie zum Beispiel mehr Zeit für Prüfungen.
Welche Informationen sollten geteilt werden?
Welche Informationen in welcher Situation nötig sind, sollte man sich am besten vorher überlegen. Mit ein wenig Übung geht das dann in eine Gewohnheit über. Es kann beispielsweise sinnvoll sein, die Chefin oder den Chef über Lernstörungen und ihre Ursachen im Allgemeinen und über die eigenen Schwierigkeiten ausführlich aufzuklären. Für andere ist es hilfreich zu verstehen, dass die beobachtbaren Leistungsdefizite wie z. B. viele Rechtschreibfehler im Schriftverkehr, nicht darauf zurückzuführen sind, dass man ungenau arbeitet.
Wann sollte man etwas mitteilen?
Am besten, bevor es dazu kommt, dass die Leistungsprobleme negativ auffallen. Spätestens aber, wenn die Leistungsprobleme bemerkt werden, ist es ratsam, über die Lernstörung aufzuklären. Es kann sogar hilfreich sein, bereits während des Bewerbungsverfahrens davon zu berichten, um eventuell schlechte Zeugnisnoten zu erklären und bei Bedarf geeignete Unterstützung zu planen.
Erfolgreich durchs Leben mit Lernstörung
Der Bundesverband Legasthenie und Dyskalkulie berichtet, dass viele Erwachsene mit Lernstörung gar nicht wissen, dass es unterstützende Angebote und Therapien für sie gibt, insbesondere wenn sie schon als Kind keine Hilfe erfahren haben. Außerdem sind Scham und Leistungsängste im Laufe ihres Lebens teilweise auf ein solches Maß angewachsen, dass sie sich gar nicht trauen, offen über ihre Probleme zu sprechen. Insofern gehören Aufklärung und Entstigmatisierung zu den wichtigsten Maßnahmen, die wir mit LONDI gerne fördern möchten. Können die Betroffenen nämlich erst einmal offen über ihre Probleme sprechen, und bekommen sie Verständnis und entsprechende Hilfsangebote, ist das schon der wichtigste Schritt, um trotz Lernstörung erfolgreich durchs Leben zu gehen.
Quellen:
- Bundesverband Legasthenie und Dyskalkulie (2018). Legasthenie und Dyskalkulie im Erwachsenenalter. Verfügbar unter: https://www.bvl-legasthenie.de/images/static/pdfs/bvl/7_Ratgeber_Erwachsene_barrierefrei.pdf
- Schulte-Körne, G. & Galuschka, K. (2019). Ratgeber Lese-/Rechtschreibstörung (LRS). Informationen für Betroffene, Eltern, Lehrer und Erzieher. Göttingen: Hogrefe.
- Sparrow, E. P. (2010). Learning disorders in adults. In J. Donders & S. J. Hunter (Hrsg.) Principles and Practice of Lifespan Developmental Neuropsychology. Cambridge: Cambridge University Press.